Rauchergesetz, Datenpaket, Kassenfusion – in der heimischen Gesundheitspolitik geht es zur Sache. In der meist emotional geführten Diskussion vergisst man oft den Blick fürs Wesentliche: die grundsätzlichen Fragen und langfristigen Herausforderungen. Medical Tribune traf einen, der an den Hebeln der Macht sitzt, um genau darüber zu sprechen: Dr. Clemens Martin Auer, Sektionschef im Gesundheitsministerium.
Herr Dr. Auer, in der Gesundheitspolitik gehen gerade die Wogen hoch. Wie gut ist unser Gesundheitssystem?
Minister kommen und gehen, Sektionschef Auer zieht im Hintergrund seit vielen Jahren die Fäden.
Auer: Ich würde dem System auf einer Schulnoten-Skala ein Gut geben. Ich bin der Letzte, der sagt, wir haben das weltbeste Gesundheitssystem, aber wir haben auch kein schlechtes. Wie alle Gesundheitssysteme hat es seine Stärken und Schwächen. Wir sind eines der zugänglichsten Gesundheitssysteme überhaupt, haben auch zur Spitzenmedizin kein Zugangsproblem. Das muss man erst einmal wo finden. Aber wir haben Steuerungsprobleme und wir haben wie alle fragmentierten Systeme ein Intransparenz-Thema. Der Paravent der Intransparenz wird überall hingestellt. Und man erlaubt nicht gerne, dass man die Probleme dahinter deutlich macht.
Die Steuerungsproblematik ist offenkundig, wie sich an überfüllten Ambulanzen zeigt. Woran hapert es und wer sollte die Patientenströme steuern?
Auer: Wenn wir ein Problem haben, dann haben wir ein Problem mit der Primärversorgung. Die Primärversorger existieren und die machen auch einen ganz guten Dienst, ich will die Hausärzte nicht kritisieren. Aber wir müssen die Organisationskraft dieses Bereichs stärken. Weil sonst der Versorgungsdruck automatisch in der sekundären und tertiären Versorgung, also der fachärztlichen und hospitären Versorgung, durchschlägt.
Was verstehen Sie unter Organisationskraft?
Auer: Sie werden mit der durchschnittlichen Öffnungszeit eines Vertragsmediziners keine flächendeckende zeitliche Verfügbarkeit hinbekommen. Deswegen gibt es ja das Primärversorgungsgesetz, das dieser Schwäche entgegenwirken will. Es geht um die strukturierte Zusammenarbeit von Allgemeinmedizinern untereinander sowie auch mit anderen Gesundheitsberufen. Die Organisation der Primärversorgung ist deutlich zu verändern. Das hat mit der Größe der Struktur zu tun, aber auch mit der Vernetzung und wahrscheinlich auch mit einem unzureichenden Sozialversicherungsvertragswesen. Das Organisatorische, das Rechtliche und Bezahlungskomponenten haben wir vom Rechtsrahmen her einmal angestoßen. Jetzt müssen die Sozialversicherung und die Ärztekammer einen neuen Gesamtvertrag aufsetzen. Parallel dazu brauchen wir ein Gründungsservice, die Gründung eines Zentrums oder Netzwerkes muss erleichtert werden. Wenn es gelingt, dass innerhalb der nächsten fünf bis zehn Jahre eine attraktive Struktur heranwächst, dann werden wir sehen, ob dieser Umsteuerungseffekt weg von den Spitalsambulanzen gelingt. Das ist ein ganz wichtiges Thema.
Bedarf es zusätzlicher Anreize wie einer Ambulanzgebühr?
Auer: Warum soll ich die Bevölkerung bestrafen, wenn die Versorgungsstrukturen nicht zugänglich genug sind? Wenn die Leute nach Schaffung entsprechender Strukturen immer noch am falschen Point of Service einsteigen, dann kann man überlegen, wie man Anreize schafft. Theoretisch sollte eine Spitalsambulanz ja heute schon eine subsidiäre Rolle spielen. Es ist nur leider anders. Die Leute gehen a priori schon in die Spitalsambulanz, weil halt nicht gerade ein Arzt offen hat, wenn sie etwas haben. Aber es ist nicht schwarz-weiß. Immerhin hat man zu einem Allgemeinmediziner einen niederschwelligen Zugang, kommt dran, wenn man etwas hat. Wo in der Welt funktioniert denn das noch so? Das wissen viele Menschen gar nicht ausreichend zu schätzen. Trotzdem ist in dem Segment etwas zu tun.
Die Zahl der Wahlärzte nimmt überproportional zu. Muss man ein Abdriften in die Zweiklassenmedizin fürchten?
Auer: Ich beobachte das auch, nenne das gerne eine schleichende Privatisierung des Gesundheitssystems weg vom Sachleistungsprinzip. Ich halte das für eine nicht erfreuliche Tendenz.
Was sind die Ursachen?
Auer: Ich sehe mehrere Ursachen. Einerseits hat das mit der Vertragssituation zu tun – da gibt es schon Probleme. Aber es gibt auch einen Wandel in der beruflichen Erwartung der Ärzte. Das hat wiederum mit der steigenden Zahl von Frauen im Beruf zu tun, von denen viele nicht mehr Fulltime arbeiten wollen oder können. Auch deswegen steigt die Zahl der Wahlärzte. Wir von der Systemsteuerung müssen dieser schleichenden Privatisierung der Versorgung Einhalt gebieten. Wenn wir die Primärversorgung attraktiver gestalten, wird die Bereitschaft, in die vertragsärztliche Regelversorgung zu gehen, wieder zunehmen. Wichtig ist auch das Thema Anstellung von Ärzten bei Ärzten. Das müssen wir zügig umsetzen. Und es geht um flexiblere Modelle der Zusammenarbeit. Die Jungen wollen nicht unbedingt Einzelkämpfer sein, die wollen in vernetzten Strukturen arbeiten.
Der Beruf des Allgemeinmediziners muss attraktiver werden. Wie soll das gelingen?
Auer: Ja, aber das hat mit der politischen Systemsteuerung wenig zu tun. Da muss ein Umdenken in der medizinischen Hackordnung eintreten, das beginnt schon an den Universitäten. Die Politik kann organisatorische Rahmenbedingungen schaffen, wie eben die Primärversorgung. Aber den Stellenwert der Allgemeinmedizin innerhalb der Medizin erhöhen kann die Politik nicht.
Eine offenkundige Schwachstelle des heimischen Gesundheitssystems ist die starke Fragmentierung …
Auer: Alle Gesundheitssysteme dieser Welt sind stark fragmentiert, jedenfalls die der westlichen Welt.
Aber aus der Zerrissenheit zwischen Steuerfinanzierung und Sozialversicherungsfinanzierung ergeben sich schon spezielle Probleme …
Auer: Ich war immer ein Verfechter der Finanzierung aus einer Hand. Aber das muss der Verfassungsgesetzgeber ändern. Solange dieser die Kompetenzen nicht ändert, müssen wir uns mit der Wirklichkeit arrangieren. Und dieses Arrangement heißt Zielsteuerung, indem man mit einem zugegeben komplizierten Vertragswesen zwischen den Steuerungspartnern, Sozialversicherungen, Bund und Ländern, gemeinsame Reformmaßnahmen verbindlich macht. Das ist der Versuch, das fragmentierte System gemeinsam zu beherrschen. Und das funktioniert ja gar nicht schlecht. Wir veröffentlichen zweimal im Jahr einen Monitoring-Bericht – wo haben Sie denn das sonst noch? Und was die Fragmentierung betrifft, so muss man eines festhalten: Die Medizin wird ja nicht schlechter, nur die Steuerung wird komplexer und schwieriger.
Womit wir wieder bei der Steuerung wären. Und dem vergleichsweise hohen und teuren Anteil der stationären Versorgung in Österreich. Ein Kernproblem?
Auer: Ja, das ist, wenn Sie so wollen, die Essenz des gesundheitspolitischen Befundes: Dass wir zu viel Medizin im stationären Bereich machen und zu wenig im ambulanten Bereich. Die Lösung heißt Stärkung der ambulanten Versorgung. Jeder vernünftige Mensch im System stimmt dem zu.
Aber die geplanten 75 Zentren werden wohl nicht alle Probleme lösen?
Auer: Nein, aber diese 75 Primärversorgungseinheiten sind der Einstieg in den Umstieg.
Trotz hoher Ausgaben sind die gesunden Lebensjahre in Österreich im internationalen Vergleich schwach. Kritiker stellen dem System deshalb ein schlechtes Zeugnis aus und sprechen von Ineffizienzen – zu Recht?
Auer: Ich bitte, bei solchen Statistiken genau hinzuschauen: Da geht es um ein paar Monate! Der Unterschied zwischen schlecht und besser ist minimal, ein Ranking alleine ist noch keine Aussage. Im Übrigen: Man kann nicht genug Geld ausgeben im Gesundheitssystem, aber wir müssen schauen, dass wir das Geld richtig ausgeben. Ineffizienzen müssen natürlich vermieden werden. Aber eines muss man rein ökonomisch betrachtet auch sehen: Die Produktivität des Systems hat enorm zugenommen über die Jahre. Wir haben heute deutlich weniger Krankenhausbetten und versorgen damit mehr Patienten. Da ist also schon viel passiert. Wenngleich wir bei der Bettendichte pro Einwohner immer noch im Spitzenfeld liegen.
Eine Schwachstelle Österreichs ist das Thema Prävention. Wieso?
Auer: Auch hier gilt: Ein Ranking alleine ist noch keine Aussage. Aber natürlich ist Prävention wichtig und natürlich sollte noch mehr getan werden. Aber es gibt ein grundsätzliches Problem: Prävention wird dem Gesundheitssystem zugeordnet, doch von der Ministerin bis zum Arzt – die können alle relativ wenig machen. Weil: Bei Prävention, da geht es um Ernährung, Bewegung etc. Da hat der Betrieb eines Versorgungssystems wenig Einfluss. Deshalb reden wir von „Health in All Policies“. Da gibt es andere Bereiche, die in die Verantwortung genommen werden müssen, wie Verkehr, Umwelt, Landwirtschaft, Industrie etc.
Machen Sie sich Sorgen in Anbetracht des demografischen Wandels?
Auer: Ich mache mir keine Sorgen, dass die Qualität der Versorgung schlechter wird. Wo man schon kritisch hinschauen muss, ist, ob das Prinzip der solidarischen Finanzierung aufgrund der großen Umwälzungen in Gesellschaft und Wirtschaft gesichert bleiben kann. Sonst hat man irgendwann „poor service for the poor“ und „good service for the rich“. Sollte die makroökonomische Situation kippen, etwa aufgrund der digitalen Disruption, dann könnte irgendwann das Solidarsystem nicht mehr funktionieren. Die Paradoxie des Solidarsystems besteht darin: Wenn es viele Arme gibt, gibt es keine Solidarität. Weil die wenigen, die in der Lage sind, die Armen zu versorgen, weniger werden und irgendwann nicht mehr können. Das ist ein Paradoxon. Zur Veranschaulichung, was ich meine: Sollten zum Beispiel Menschen ihre Jobs im Einzelhandel verlieren, weil wir alles nur mehr übers Internet bestellen, was hieße das für das Solidarsystem? Was hieße das für den Arbeitsmarkt? Sind diese Jobs substituierbar in der Logistikindustrie? Da muss man sehr genau hinschauen. Und sich rechtzeitig fragen, was das für ein solidarisches Gesundheits- und Sozialsystem bedeutet. Das muss auch alles nicht so geschehen, trotzdem ist eine politische Diskussion darüber zu führen.
Wenn es weniger Beitragszahler gibt und die Menschen auch noch immer älter werden, dann werden die wenigen mehr zahlen müssen?
Auer: Als Sektionschef des Gesundheitsministeriums bin ich mitverantwortlich für die Organisationsstruktur. Und da mache ich mir wenig Sorgen, wenn wir die richtigen Reformschritte immer wieder setzen. Und es wird auch die Medizin nicht schlechter. Ein funktionierendes Gesundheits- und Pflegesystem wird immer ungefähr zehn Prozent des BIP kosten. Wenn wir gut sind und eine effiziente Organisationsstruktur haben, wird es dabei bleiben. Aber wir müssen die Kosten dafür auch erwirtschaften können. Das ist die Grundvoraussetzung.
Zur Person
Dr. Clemens Martin Auer ist Sektionschef im Bundesministerium für Gesundheit. Er studierte Philosophie und Politikwissenschaften an der Uni Wien. Von 1993 bis 2003 war er zunächst unter Vizekanzler Busek und später unter Bundeskanzler Schüssel Leiter der Politischen Abteilung der Österreichischen Volkspartei (ÖVP), danach Kabinettschef von Maria Rauch-Kallat im Bundesministerium für Gesundheit und Frauen. Seit 2005 leitet er die Sektion I (Gesundheitssystem, Zentrale Koordination) im Bundesministerium für Gesundheit.